23 April 2024

 Genesis Kapitel 1, Vers 1

Es wird wohl ein Geheimnis bleiben, wie in das Dachgeschoss des schönen Fachwerkhauses in der Stiftsstraße neben den netten floralen Ausmalungen ein Text geraten ist, der uns verblüfft. Wer genau hinschaut, erkennt nämlich hebräische Schriftzeichen, noch gut lesbar erhalten.

florale Ausmalung unterm Dach
(Foto: G. Plott)


Das Haus in der Stiftstraße. Unter dem Dach die
hebräische Schrift. (Foto: Philippscheck)



















Welcher Text hier begonnen wurde, ist sogar angegeben: Es sind die allerersten Worte des Alten Testaments, also „Genesis Kapitel 1 Vers 1“. Wer hat diesen Text in Hebräisch, also der „Urform“ des Alten Testaments, an die Wand geschrieben oder schreiben lassen? War der Raum unter dem Dach eine kleine Studierstube, die man mit Pflanzenmotiven wohnlich gemacht hat?

der hebräische Text - die ersten drei Worte - auf dem Putz; darunter Textteil 
mit den Worten "Wasser" und "Erde" (Foto: G. Plott)
zum Vergleich: ein gedruckter Text (von rechts nach links zu lesen; Wikipedia)

Wir können nur vermuten. Das Haus wurde 1681 an Stelle eines ehemaligen Chorherrenhauses neu erbaut und 1692 an die Stadt Sindelfingen verkauft, die es als Lateinschule nutzen wollte. Aber schon wenige Jahre später hat es der damalige Sindelfinger Pfarrer Matthäus Roschitz erworben, dessen Epitaph aus dem Jahr 1700 sich an der inneren Nordwand der Martinskirche erhalten hat. Er hat sich bei seinem Theologiestudium - wahrscheinlich in Tübingen - natürlich mit der hebräischen Sprache beschäftigen müssen, weil sie neben Altgriechisch und Latein zur Sprache des frühen Christentums gehört. Denn das entstand in einem Umfeld, in dem – so hieß es - das Hebräische als gehobene Sprache der Synagoge und des Tempels, das Griechische als internationale Gelehrtensprache und das Lateinische als Verwaltungssprache der Römer verwendet wurden.

Luther befand die Hebräische Sprache als „die allerbeste und reichste in Worten, rein, heilig“ und unerlässlich für die Schriftauslegung. Denn Gott habe das Alte Testament in Hebräisch, das Neue auf Griechisch verfasst. (Diese seine Einschätzung bedeutete nicht, dass Luther das Judentum wertschätzte. Er hielt die jüdische Auslegung der alttestamenta-rischen Schöpfungsgeschichte für völlig falsch und versuchte vehement, sie zu widerlegen.)

Großen Einfluss auf die Anerkennung des Hebräischen im deutschen Kulturkreis hatte zuvor schon das schwäbische Genie Johannes Reuchlin, der als Humanist, Philosoph, Jurist und Diplomat engen Kontakt zur italienischen Renaissance-Welt in Florenz und Rom hielt. Beeinflusst war er zum Beispiel vom berühmten Pico delle Mirandola, der sehr mutig für eine Vereinigung von Griechentum, Judentum und Christentum plädierte. Reuchlin warb intensiv dafür, das jüdische Schrifttum ernst zu nehmen und es vor der Inquisition zu verteidigen. Unterstützt wurde er dabei von seinem Mentor Johannes Vergenhans, den ehemaligen Sindelfinger Chorherrn. Das Motto der Humanisten hieß dabei „ad fontes“, zurück zu den Quellen des Wissens, zum Beispiel zum hebräischen Alten Testament.

Reuchlin-Münze zum 400. Todestag 1922
von Ernst Barlach (Wikipedia)

Ausschnitt aus der Seite eines Talmud-Textes; eines der vielen hebräischen Originaldokumente,       die Reuchlin gesammelt hatte (Badische Landesbibliothek Karlsruhe, Cod. Reuchlin 2)

Reuchlin konnte 1521 in Tübingen für eine Lehrtätigkeit in Griechisch und Hebräisch angeworben werden, bestellte dazu 100 hebräische Bibeln aus Venedig und rief begeistert aus: „Die Wahrheit wird ausgehen von diesem Lande!“. Die Studenten strömten nach Tübingen, aber Reuchlin starb schon nach kurzer Lehrtätigkeit in Liebenzell, wurde in der Stuttgarter Leonhardskirche begraben. Trotz dieser Situation blieb das Hebräische in einem Auf und Ab seit dieser Zeit Teil der Tübinger Theologenausbildung. Gehört unser Sindelfinger Text in diesen Zusammenhang?


Auf alle Fälle wissen wir: Unser kleiner Text an der Wand eines eindrucksvollen historischen Sindelfinger Hauses ist zwar ein winziger Mosaikstein im großen Bild der allgemeinen kulturhistorischen Entwicklung, aber trotzdem aussagekräftig und Anlass, über komplexe Aspekte der europäischen Geistesgeschichte nachzudenken.


20 April 2024

 Das Zunftzeichen „Brauerstern“

Ein trauriges Kapitel beim Thema Altstadt. Zwar soll sie weiter entwickelt und so für Bewohner und Besucher attraktiver werden – aber dann gibt es Entscheidungen der Stadtverwaltung, die dieses Ziel konterkarieren. Ein solches Beispiel gibt es in der nördlichen Altstadt, die Lange Straße 29 betreffend. Hier hätte ein Haus saniert werden können, das als eher französisch/klassizistisch um 1805 einen neuen Stil in die alte Stadt gebracht hat. An der Langen Straße gelegen, also der alten Sindelfinger „Hauptstraße“, gleich hinter dem Oberen Tor, das noch stand, als dieses Haus gebaut wurde.


Das Haus Lange Straße 29, historische
Aufnahme (Stadtarchiv)
Abriss des Hauses 2024 (Foto: phil)










Wir wollen dazu eine Besonderheit erwähnen, die, wäre sie durch eine Sanierung gerettet worden, einen interessanten Zwischenstopp bei Stadtführungen ergeben hätte.

Alte Sindelfinger kennen das Haus noch als Bäckerei und als Gastwirtschaft „Bürgerstüble“, ein einfaches Lokal, in dem auch selbst gebrannter Schnaps ausgeschenkt wurde. Wie hieß es: Da hätten die Weltverbesserer diskutiert. Der Wirt hat auch Geld verliehen, wird auch erzählt. Und eine weitere Besonderheit waren  - allerdings weit vor dem Krieg – die Fensterscheiben mit ihrer Gravur: Das Zunftzeichen der Brauer und Brenner, der eigenwillige „Brauerstern“, ergänzt mit Obst - zum Brennen -  und Lorbeerverzierung. Ein mögliches Problem im Dritten Reich: Der „Brauerstern“ ist genauso aufgebaut wie der jüdische Davidsstern, zwei ineinander geschachtelte Dreiecke, die je symbolische Bedeutungen haben.


Zwei von vier geretteten Fensterflügeln des "Bräustübles" im 
Stadtmuseum (Foto: phil, mit Dank ans Museum)
"Brauerstern": Eine Theorie
geht davon aus, dass der Brauerstern
einmal die für das Brauen wichtigen
drei Elemente (Feuer, Wasser und
Luft) symbolisiert und zum anderen
die im Mittelalter bekannten Zutaten
(Wasser, Malz und Hopfen) bezeichnet
 (die Hefe als Brauzusatz fehlte damals
noch), so dass sich insgesamt
die sechs Zacken des Brauersterns
damit erklären.
(wikipedia) 

Es bleibt zu vermuten, dass die Fenster in der Zeit des Dritten Reichs ausgebaut, dabei aber nicht zerstört, sondern in einer nahe gelegenen Scheuer gelagert wurden. Da sind sie vor wenigen Jahren wieder entdeckt worden und harren jetzt im Stadtmuseum wieder einer Zukunft im Sonnenlicht. In ihrem sanierten Haus hätten sie - wieder eingebaut - etwas über Sindelfinger Geschichte erzählen können. Jetzt bleiben sie zwar interessante, aber isolierte Museumsstücke.

 

30 März 2024

Magische Welten

Kümmern wir uns heute noch einmal um die magischen Welten in der alten Stadt. Man kann davon ausgehen, dass man früher beim Gang durch die Altstädte an den Häusern eine Vielzahl von Malereien, Schnitzereien und steinernen Formen gesehen hat, die Symbole für Wünsche, Hoffnungen, Beschwörungen waren. Böse Kräfte sollten so gebannt werden.

In Sindelfingen sind fast alle solcher Zeichen sind verschwunden: Der Verputz, den viele Häuser erhalten haben, hat damit natürlich zu tun; der Wert der alten, intensiv bewohnten Fachwerkhäuser war gesunken; dadurch verloren ihre ästhetischen Dimensionen stark an Bedeutung, die Schönheit eines Hauses war kein bedeutsames Kriterium mehr; und schließlich wurden auch - vor allem dann im 19. Jahrhundert - ganz offiziell rationalere Sichtweisen von der Bevölkerung erwartet: eine Folge der Aufklärung.

Funktionale und rationalere Bauweisen vor allem der Nachkriegszeit aber verzichteten ganz auf zusätzliche Gestaltungsmomente, ob bei privaten oder öffentlichen Bauträgern. Es dauerte eine ganze Weile, bis dies als Verlust erlebt wurde und die Sanierung alter Häuser nicht mehr als nutzlose Geldausgabe verstanden wurde. Trotzdem: Fassaden mit ganz persönlichen Äußerungen zu schmücken, ist äußerst selten geworden, wahrscheinlich, weil man sich nicht mehr sicher ist, ob Betrachter dies als positiv empfinden.

Es ist ein neuer Entwicklungsprozess, zu erkennen, dass Architektur nicht nur aus Stein, Holz und Beton besteht, sondern auch aus Träumen, Mythen und Geheimnissen. Schauen wir uns dazu die Sindelfinger Beispiele an, die heute als Kleindenkmäler gewertet werden.


Das wunderbar sanierte Haus Lange Straße
25 mit seinem Restaurant "Drei Mohren". 
Der "Wilde Mann"  ist ganz oben im
spitzen Giebel zu finden. Dass er kaum
zu sehen ist, stört nicht seine
Schutzfunktion. (Foto: phil)

Der "Wilde Mann" setzt seine Kräfte 
zum Schutz für Haus und Hof ein.
Hier sehen wir ihn, als er bei der
Sanierung des Hauses nach
langer Dunkelheit wieder das
Tageslicht erblicken kann. (Foto: phil)
Zwei wunderbare Stücke vom ehemaligen Haus Lange Straße 44, 
das im Krieg leider zerstört wurde. Das Haus wurde 1698 vom
Büchsenmacher und Waffenschmied Johann David Renner gebaut. 
Die zwei Hauspfosten wurden aus der Ruine gerettet und
stehen im Stadtmuseum. Der linke Pfosten zeigt die damals
sehr beliebte mythische Figur der Melusine, einer Nixe. (Foto: phil)

Das im Krieg zerstörte Haus Lange
Straße 44. Die Pfosten saßen im
ersten Stock. (Foto: Stadtarchiv)


Titelseite einer Ausgabe der
Melusine-Sage vom aus
Sindelfingen stammenden
Pfarrer Ottmar Schönhuth.
(Buch im Privatbesitz.)
Aus der Eckkonstruktion des Hauses Untere Burggasse 3
schaut ein sogenannter Neidkopf herunter. Er will dem
herandrängenden bösen Mächten sagen: "Das Haus ist
besetzt, zieht weiter, woanders hin." (Foto: phil)


18 März 2024

 Eine ganz spezielle Sonnenuhr

an der Südseite des Turms der Martinskirche (Collage: phil)

An der Südseite einiger sehr alter Kirchen findet man selten noch eine seltsame, kleine Sonnenuhr: ein Halbkreis, durch drei (manchmal mehr) Linien unterteilt. Ihre sehr regelmäßige Form, die nicht dem jeweiligen Standort angepasst ist und also keine „Uhrzeit“ ablesen lässt, verweist auf einen symbolischen Charakter: Es dreht sich um eine „Kanonische Sonnenuhr“. Und solch eine besitzen wir tatsächlich auch in Sindelfingen – an der Südseite des mächtigen Kirchturms der Martinskirche. Man muss aber sehr genau hinschauen.

Was ist nun die Funktion einer „Kanonischen Sonnenuhr“ gewesen?

Sie gehört in ein klösterliches Umfeld und verweist auf die klösterliche Zeitordnung. Diese geht auf die Regeln des Klosters auf dem Monte Cassino in Italien zurück, die Benedikt von Nursia um das Jahr 540 nach Christus aufgestellt hat und die zu einer allgemeinen Regel wurde. Sieben über Tag und Nacht verteilte Gebete der Mönche sollten an die Passion Christi erinnern. Die Kanonische Sonnenuhr setzt bei Sonnenaufgang oder etwas später ein: Da war die PRIM zu beten, bei Sonnen-untergang verweist die Sonnenuhr auf die VESPER. Die drei dazwischen verbleibenden Gebete werden in Dreistundenabständen, genannt hora tertia, hora sexta und hora nona, angezeigt. Die Sonnenuhr verweist also logischerweise auf die fünf Tagesgebete.

die Sindelfinger Sonnenuhr (Foto: phil)


Kanonische Sonnenuhr, 4er-Teilung, Reutte/Tirol (Foto:
Wikipedia, K.Schwarzinger)

Diese Pflichten nie zu vergessen ermahnt also unsere symbolische Sonnenuhr. Verstärkt wurde dieser Hinweis durch einen kleinen Stab, der mit seinem wandernden Schatten an die vergehende Zeit erinnert. (Deshalb die Lage an der Südseite der Klosterkirche.) Das kleine Loch für den Stab ist an der Sindelfinger Turmwand noch zu sehen; dass die kleine Sonnenuhr dort fast 500 Jahre – also seit der Auflösung des Klosters - ohne Funktion überlebt hat, ist ein kleines Wunder. Eigentlich ist sie wohl so alt wie der Turm, also 900 Jahre, und es ist angemessen, beim Vorübergehen einen Blick auf sie zu werfen.

01 März 2024

Die borromäischen Ringe in Sindelfingen

Die Villa Wittmann ist das einzige Gebäude in Sindelfingen, das eine großbürgerliche Struktur aufweist. Dazu passt es, dass der kulturelle Anspruch der Familie Wittmann an ihrer Hausfassade auch gezeigt wird – so wie man das traditionell von Gebäuden stolzer Kaufmannsfamilien kennt. Wir erkennen dies an der großen Kartusche auf der Fassade zur Bachstraße hin.

die borromäischen Ringe an der Villa Wittmann (Foto: phil)

Die Ringe (Wikipedia)
Heute betrachten wir einen Gestaltungsaspekt näher. Der zeigt uns oben auf der Kartusche drei ineinander verschlungene Ringe, die man leicht übersieht. Es geht dabei aber um die drei berühmten borromäischen Ringe - eine uralte Symbolform, die aus drei Ringen besteht, die so ineinandergreifen, dass sie sich durch keinerlei Versuch voneinander trennen lassen. Durchtrennt man aber einen der Ringe gewaltsam, so fallen die beiden anderen immer auseinander. Wegen dieser eigenwilligen Eigenschaft wurden diese Ringe zum Symbol der besonderen Stärke, die in der Einheit liegt und zur Illustration dessen, was passiert, wenn ein Glied aus einer engen Vereinigung entfernt wird. Eine Mahnung an die Mitglieder einer Familie oder einer Vereinigung.

das Wappen der Familie Borromeo,
Ringe oben rechts 
(aus: "Pinterest")
Die Ringe sind nach der italienischen Adelsfamilie Borromeo benannt, deren heutiger Besitz unter anderem die drei borromäischen Inseln im Lage Maggiore umfasst und die die drei Ringe in ihrem Wappen führt.

unsere "borromäische Villa" in Sindelfingen
(Zeichnung: Philippscheck)

Die Ringe haben wegen ihrer Eigenschaft auch Wissenschaftler fasziniert, besonders die Mathematiker. Psychologen sehen in ihnen das Imaginäre, das Symbolische und das Reale. Und wir freuen uns, dass uns eine künstlerische Ergänzung der Fassade der Villa Wittmann in solche kulturhisto-rischen Dimensionen führt.

23 Februar 2024

Architektur-Ensemble Stumpengasse 1

Kümmern wir uns noch einmal um das Thema "Bürgermeister Gußmann". Gußmann besaß in der Stumpengasse 1 einen der größten Hauskomplexe in der Stadt und dazu erheblichen Landbesitz. Der Plan unten zeigt die für Sindelfingen außergewöhnliche Struktur, die wir sonst in größeren, reicheren Städten kennen: Der repräsentative Teil des Komplexes zur Hauptstraße hin (hier: zur Langen Straße, der ehemaligen Hauptstraße); dann dahinter ein Hof mit Garten, weitere Wohngebäude nach hinten, bei Gußmann auch mit einer Galerie verziert. Und im Hintergrund Remise und Scheuer, durch die hindurch eine abgelegenere Parallelstraße zu erreichen ist - meistens die Situation reicher Kaufleute.

Der Innenhof von Stumpengasse 1 in den 60er Jahren: Links der Bau zur Langen Gasse hin, die Galerie führt nach rechts zum hinteren Komplex, der zur Turmgassse reicht. (Abb.: Stadtarchiv)

Plan von 1830 mit der Lage von
Stumpengasse 1


Dass ein solcher malerischer und einzigartiger Komplex noch in den 1970er Jahren abgerissen worden ist, kann nur als tragisch bezeichnet werden. Ein solches saniertes Ensemble wäre heutzutage der Höhepunkt jeder Stadtführung. 

In seinem Wohnhaus ließ Gußmann sich eine aufwendige Rokokostube einbauen, mit in Blautönen gehaltenen üppigen, von derb bis amourös reichenden Darstellungen auf der Holzvertäfelung - also eine typisch bürgerliche Rokoko-Struktur. Ihre Farbigkeit erinnert stark an Delfter Fliesentableaus, die damals in vielen Schlössern und Villen zu finden waren. Den Künstler hat Gußmann möglicherweise am Ludwigsburger Hof gefunden, wo er lange Jahre als Proviantmeister fürs Militär gearbeitet hatte. 

Im ehemaligen "Museum für Volkskultur" in Waldenbuch war der Salon bis 2012 aufgebaut. (Foto: phil)
Im damaligen Landstädtchen Sindelfingen, tief pietistisch geprägt, war dieser Salon ein prunkvolles, aber fremdartiges Unterfangen. Immerhin hatte die Stube die Größe von etwa 5 x 5,5 Meter, über die sich eine Holz-Kassettendecke spannte. Denkbar ist, dass der kleine Hausvorbau, den man gut erkennen kann, eigens für die Einrichtung eines solchen Salons im ersten Stock errichtet worden ist.

Die Bedeutung einer solchen seltenen bürgerlichen Rokoko-Stube ist  durchaus überregional - und es ist ein kleines Wunder, dass diese Stube alle Gefährdungen der letzten 250 Jahre überstanden hat. Wir hoffen auf eine Lösung, die dieses Kunstwerk wieder öffentlich zugänglich macht.

Porträt Bürgermeister Gußmann
(im Besitz des Stadtmuseums)



21 Februar 2024

 Der Sinnsucher an der Stadtmauer: Toleranz

Erinnerung an den ersten Poetischen Ort Sindelfingens

Ausschnitt aus Klaus Kuglers Gemälde für die Stadtmauer 1

Ihr wisst, bald sehen wir die Abendsterne,

Und manche Seele fühlt sich fast entrückt.

Die Blicke schweifen in die Himmelsferne,

ersehnen sich von dort ein Tor ins Glück.


Es prägen viele Zweifel uns´re Zeiten,

so hört der Mensch nicht auf zu fragen,

ob denn in diesen ungeheuren Weiten

allein der Zufall sollt´ den Kosmos tragen.


Die Philosophen zweifeln oft daran,

die Theologen schütteln sich vor Graus;

doch Wissenschaft zieht ihr Gesetz heran

und rechnet kühl Wahrscheinlichkeiten aus.


Ihr seht: In dieser ernsten Menschheitsfrage

ist drei Jahrhunderte die Weltgespalten.

Ein jeder spürt´s beim Blick auf diese Lage

und ist zu eignen Meinungen gehalten.


Und ich steh´ heute Abend hier am Platz,

und sprech´ zu euch von Suche nach dem Sinn,

die nötig ist zur Antwort auf den Satz:

Es geht um jene Toleranz, die uns erfüllt


beim Treffen naher, aber fremder Welten,

und im Versuch, die Mauern zu durchschreiten, 

die aufgetürmt als Hindernis zwar gelten,

einmal zerbrochen aber uns´re Blicke weiten.


Im Bild des Künstlers bröckeln still die Mauern,

und geben solche neuen Blicke frei. 

Vielleicht schwingt mit ein sanfter Hauch Bedauern,

dass manches Bunte fehlt uns heut´ dabei.

Ausschnitt aus Klaus Kuglers Gemälde für die Stadtmauer 2

Moritat, gehalten bei der Biennale 2017, als die Poetischen Orte noch einmal vorgestellt worden sind. Das Originalgemälde von Klaus Kugler gehört mittlerweile der Städtischen Galerie Sindelfingen.

 



 

17 Februar 2024

Sindelfinger Kleindenkmale:

Metallschild der „Phönix“-Feuerversicherung

das Erdgeschoss des Storchenhauses (Foto: phil)

Früher hing an einem der großen Fensterläden im Erdgeschoss des Storchenhauses ein kleines Schild. Es war leider mit der Farbe der Läden übermalt worden und also schlecht zu erkennen. Das war deshalb schade, weil das kleine Schild ein Kleindenkmal ist: Es zeigte an, dass dieses Haus feuerversichert gewesen ist, und zwar bei der „Londoner Phönix“, einer berühmten englischen Versicherung, die schon 1782 gegründet worden war. Die Bedeutung der Feuerversicherung war natürlich riesig, weil die Feuergefahr in früheren Zeiten enorm war:   Man denke etwa an die verheerenden Brände in London oder Hamburg, in anderem Maßstab natürlich auch bei uns. Aber es dauerte trotzdem, bis sich das Versicherungsprinzip der Gegenseitigkeit allgemein durchsetzen konnte.

Das Feuerversicherungsschild am Fensterladen (Foto: phil)

Sah das Schild einst so aus? (Abb.: Wikipedia) 

„Phönix“ war eine privatrechtliche Versicherung, die nicht ein Haus selbst, sondern vor allem das Inventar versicherte. Diese „Erfindung“ der Phönix war noch Anfang des 19. Jahrhunderts außergewöhnlich, weil zum Beispiel die württembergische Zwangs-Feuerversicherung durch die herzogliche „Brand-Schadens-Versicherungs-Anstalt“, die es seit 1773 gab, keinen Hausrat mitversicherte und auch keine Elementarschäden abdeckte. So hatte sich die „Phönix“ in deutschen Landen eine Monopolstellung erobert, die ihr hohe Beiträge und Gewinne ermöglichte.

Originaler Versicherungsschein der "Phönix" (Privatbesitz)




Das forderte deutsche Kaufleute heraus und 1820 wurde zum Beispiel mit der „Gothaer“ eine erfolgreiche deutsche „Feuerversicherungs-Bank“ für den Handelsstand gegründet. Dass die englische „Phönix“ aber noch immer im Spiel blieb, sehen wir am erwähnten Schild. Solche Schilder waren in Württemberg ab 1830 sogar Pflicht: „Jeder Eigentümer, der sein bewegliches Vermögen versichert hat, hat das Schild an seinem Gebäude auf eine für Jedermann sichtbare Weise anzuheften". Ein Grund dafür war unter anderem, dass dadurch Doppelversicherungen ausgeschlossen wurden, die Anreize zur Brandstiftung gaben. Aber auch der Werbeeffekt war nicht zu unterschätzen.


Versicherungsordnung Herzogtum
Württemberg von 1773 (Google books)

Nachdem sie die Genehmigung erhielten, auch Mobiliarversicherungen abzuschließen, schafften sich später auch die öffentlich-rechtlichen Anstalten solche Feuerversicherungsschilder an.

Schade ist es in unserem Sindelfinger Fall, dass das Schild, das auf solche historischen Aspekte hinweisen kann, also ein Denkmal ist, wohl zur Sanierung abgenommen worden ist, die Hausverwaltung sich aber nicht darum gekümmert hat, dass es wieder angebracht wird. Das ist sehr schade, weil Sindelfingen nicht reich an Kleindenkmalen ist, die oft auf besonders interessante Alltagsstrukturen hinweisen.

Zusatz. Kulturhistorisch interessant ist folgende historische Einschätzung: In katholischen Ländern wurde bei Brandschäden zu Spenden aufgerufen, auch die Kirche schoss eine Summe zu. In calvinistisch geprägten Ländern wurde die Feuerversicherung dagegen als Initiative verstanden, bei der der positive Zweck mit gutem privaten Gewinn verbunden ist. Die lutherischen Gebiete dagegen schafften öffentlich-rechtliche Strukturen auf Gegenseitigkeit (siehe Württemberg).


13 Februar 2024

Gespräch am Marktbrunnen

Eine Szene von „Kultur am Stift“ mit 3 Personen:                                       Prof. Zeitler, der Künstler                                                              eine Fragenstellerin                                                                    eine Anthroposophin

 

Grüß Gott. Herr Zeitler, sagen Sie uns hier doch bitte…

Herr Professor Zeitler bitte!

Professor Zeitler (Bild Stadtarchiv)

Gut, so sei es dann. Herr Professor, sagen Sie uns also bitte hier etwas zu Ihrer Gestaltungsidee, diesen Brunnen betreffend. Sie hatten sich ja zu diesem Gespräch bereit erklärt.

Ja, nun gut. Gut. Aber bitte, wer ist die Dame hier?

Grüß Gott! Also, das ist so: Ich war immer schon überrascht und auch erfreut über diese vier Köpfe hier oben und würde gerne die Gelegenheit nutzen, um Sie…

Halt! Nein, erst ich. Die erste Frage natürlich zu ihren beiden Schwätzweibern hier oben. Wie kamen Sie denn zu…

Also erst einmal und zum wiederholten Male, meine Dame! Ich mag diese Begrifflichkeit nicht. Schwätzweiber! Das ist wirklich Geschwätz. Es geht um mehr, es geht um Tieferes - wenn auch im, nun ja, profanen Kontext des Marktes, der hier stattfindet.

Profan sagen Sie?

Streiten wir nicht um Worte! Sagen wir… volkstümlich…

Gut. Der Markt hat doch schließlich eine sehr große Bedeutung. Nicht nur, um einzukaufen. Er hat eine geradezu soziale Funktion für die kleine Stadt.

Ja eben, eben. Darum geht´s. Das wollte ich ja auch thematisieren mit meiner künstlerischen Arbeit. Deswegen habe ich sie „Das Geheimnis“ genannt.  „Das Geheimnis“. Verstehen Sie? Das ist mehr, das ist – tiefer. Psychologischer. Nicht einfach nur platt humoristisch!

Ja, ich verstehe, gut. Ich will aber - verzeihen Sie - auch kritisch fragen: Ist nicht die etwas grobe Form der Figuren schuld daran, dass die Sindelfinger einen solchen Namen…

Hören Sie auf! Schauen Sie sich doch meine Werke an! In Stuttgart am Eberhardsbau, am Kunstgebäude von Theodor Fischer, der viel geliebte Hans-im-Glück-Brunnen. Und unendlich viele andere. Alles anerkannte Meisterwerke! 

Ja, gut, und? Was hat das mit…

Wer hat das hier denn hergestellt? Bitte? Der Sindelfinger Gemeinderat wollte ja nichts zahlen! Etwas Künstlerisches, ja, ja! Aber es soll nichts kosten! Da hatte dann der Sindelfinger – wie soll ich ihn nennen? – Steinhauer oder meinetwegen Steinbildhauer, also der Schäfer seine Finger im Spiel. Der kann doch nur grobe Formen! So sieht´s hier dann eben aus, wenn man sparen will.

Also, das sehen wir Sindelfinger aber etwas anders. Denn unser Schäfer, der…

Aber bitte! Bitte! Wir haben wenig Zeit. Lassen Sie mich doch jetzt endlich noch etwas zu den vier Köpfen fragen. Auch die Buchstaben darunter zeigen es ja, Professor Zeitler: Sie haben hier die vier menschlichen Temperamente thematisiert.

 Ja, ganz richtig. Das hat mit... Übrigens - diese Köpfe hat Ihr Bürgermeister in einem Brief „Charakterfratzen“ genannt. „Fratzen“! Sindelfingen!

Brief von Zeitler an den Bürgermeister Hörmann, 1927. Der Brief kam aus Lugano. (Stadtarchiv)

Also, was mich da interessiert ist nun…

Das hat natürlich mit dem Thema Menschen auf dem Markt zu tun. Verstehen Sie? Ich als Künstler verstehe meine Arbeit doch tiefer, grundsätzlicher. Ich hatte den Sindelfingern auch einen „Brunnen der Tugenden“ vorgeschlagen; den wollten sie ja nicht. Einen „Brunnen der fünf Sinne“ -  auch nicht! Merken Sie etwas? Na?

Und die vier Temperamente?

Ach, das hat doch überhaupt niemand wahrgenommen. Ich glaube bis heute nicht.

Wie kamen Sie denn auf die vier Temperamente? Denn die sind doch…

Das habe ich doch schon…

Nein, nein. Haben Sie noch nicht! In Ihren Worten: Das ist doch tiefer gehend.

Also nochmal gefragt. Soviel ich weiß: Die uralte Temperamentenlehre vertritt doch niemand mehr, Professor Zeitler…

Das ist doch jetzt das Thema! Wie kommen Sie, Professor Zeitler, dazu, den Phlegmatiker, den Sanguiniker, den Choleriker und den Melancholiker hier darzustellen? Hier an diesem Brunnen! Das interessiert mich! Kennen Sie denn Rudolf Steiner?

Die vier Temperamente (bei "Anthrowiki")

Ja, ja, als Stuttgarter Künstler kenne ich den Anthroposophen Steiner natürlich. Seine erste Waldorf-Schule steht ja seit einiger Zeit in Stuttgart. Er war oft da, er ist künstlerisch sehr interessiert. Mag sein, dass ich da von mancher dieser Diskussionen um ihn schon beeinflusst worden bin und…

Und er arbeitet ganz dezidiert mit den vier Temperamenten! Er hat da auch Goethes Ideen wieder aufgegriffen.  Er redet von der viergliedrigen Wesenheit, die mit den Temperamenten einen Zusammenhang bildet. So wie Paracelsus!

Aha, Paracelsus!  Ja, genau! Schön gesagt. Sehr schön. Ich bin überrascht. Also, das Viergliedrige...

…von dem physischen Leib, dem Ätherleib, dem Astralleib und schließlich vom eigentlichen menschlichen Ich. Nur, wenn man auf diese ganze Wirklichkeit sieht, zu der auch das Geistige gehört, wenn man nicht bloß bei dem sinnlich Wirklichen bleibt, kann aus der Erkenntnis Lebenspraxis folgen. Sagt Steiner.

Aha! Sagt der Steiner. Nun, ich freue mich, dass mein Marktbrunnen, um den so viele Menschen sich bewegen, eine solche Nachdenklichkeit bewirkt. In solche Welten führt! Trotz allem. Bin überrascht.

Was reden wir denn hier? Wir denken alle, dass dies doch nur der Schwätzweiber…, äh, Marktbrunnen ist. Er hat also ein Geheimnis oben drauf.

Halt! Ich bin am Überlegen. Das gefällt mir, hier nicht nur ein kleines, neugierig besprochenes Geheimnis zu sehen, sondern ein viel größeres, das hinter dem Muschelkalkstein verborgen ist: Das Geheimnis des Lebens!

Na, ich weiß nicht! Wegen der vier Köpfe! Ist das nicht ein bisschen…Also…

Mir gefällt diese Idee! Das Geheimnis!

Sehen Sie! Sehen Sie! Ich habe es doch dem Schultheiß Hörmann geschrieben. Dieser Brunnen gehört zu den originellsten Brunnen Deutschlands. Habe ich ihm geschrieben! Und er, und er - hat darauf nicht geantwortet!

Also, Sie sind aber ein - Choleriker!

Wieso denn? He! Wieso?

)
Charakterkopf "C" = Choleriker am Brunnen (Foto: phil)


Zukunftsvision vom gestalteten Brunnen (Bild: Klaus Philippscheck)





11 Februar 2024

Martinskirche Frage 2: 

Christian von Leins versetzt die Eingangstür der Martinskirche um wenige Meter. Welche Theorie steht dahinter?

von Klaus Philippscheck

Immer, wenn ich Besucherinnen und Besucher an die südliche Außenseite der Martinskirche führe, mache ich sie auf eine Veränderung der Eingangssituation aus dem 19. Jahrhundert aufmerksam. Helle Steine zeigen, dass einst das Eingangsportal ein paar Meter weiter westlich gelegen hat. Und so stellt sich dann die Frage, wer hier wann und warum diese aufwendige Entscheidung getroffen hat.

Christian Friedrich von Leins
1814 - 1892 (Wikipedia)

Manche Gäste haben schon einmal gehört, dass der königlich württem-bergische Baumeister Christian von Leins bei seinen  Sanierungsarbeiten um 1863/64 auf der Südseite ein altes gotisches Häuschen abreißen ließ und dass hinter der darauf folgenden Versetzung des Eingangs eine Idee stand: Leins wollte die Grundstruktur der romanischen Architektur mit ihrer hohen Bedeutung der Symmetrie in Wert setzen - und der mittelalterliche Zugang in die Kirche lag nicht in der Mitte der vor Leins liegenden Kirchenschifffassade. Das war für Leins, dem bedeutenden Architekten des Historismus, ein derart wichtiges Problem, dass er einen neuen, jetzt zentralen Eingang in die Wand einbrechen ließ. Konsequenterweise wurde genau ein solcher Eingang von ihm auch in die Nordseite des Kirchenschiffs gesetzt - gespiegelt, symmetrisch.

Dass die Symmetrie gerade in der romanischen Architektur eine grundlegende Bedeutung hatte, ist eine richtige Einschätzung von Leins: Die Symmetrie stand zusammen mit den Formen des Kreises - auch des romanischen Halbkreises - für göttliche Ordnung und Struktur, Stabilität und Perfektion. Ausgehend von Platons Aussage "Gott treibt Geometrie" war es dann der christliche "deus geometra", der die Ordnung und die Schönheit des Kosmos geschaffen hat.

So weit wohl die Überlegungen unseres Architekten Leins, und sie scheinen stimmig zu sein. Aber für mich ist damit das Thema Leins noch nicht beendet, denn mich stört bei genauerer Betrachtung seiner Überlegungen eine Unstimmigkeit: Das Kirchenschiff, von dem Leins ausgeht, ist nicht mittelalterlich, sondern ein Ergebnis der Umgestaltung nach der Reformation - als die Krypta und damit der Hochchor abgerissen worden waren. Es blieb also ein viel kleinerer Chorbereich übrig, der ja im evangelischen Gottesdienst keine Funktion mehr hat.

Die Länge dieses neuen Kirchenschiffs hat Leins halbiert und dort sein neues Tor eingesetzt, um die erwähnte Symmetrie zu schaffen. Aber sie bleibt leider eine rein äußerliche Struktur, weil ja für den evangelischen Kirchenbau die Symmetrie gar keine Bedeutung mehr hat. Aber, kann man sagen, Leins wollte sie wieder als eine Form der stolzen mittelalterlichen Romanik aufgreifen.

Die Südseite der Martinskirche: Das 1864 zugemauerte Portal ist gut zu erkennen. Zur Entscheidung von Leins gehört auch das kreisrunde Fenster; auch das ein Aspekt der Symmetrie. Bitte beachten Sie am Obergaden die "einsame" Lisene. (Foto: phil)

Aber da gibt es ein Problem: Vor allem die mittelalterlichen Stiftskirchen sind keine in sich geschlossenen Baukörper. Es sind eigentlich zwei aneinander gestellte Kirchen: der Ostbereich mit erhöhtem Chor, dem Hochaltar, dem Chorgestühl; allein zugänlich für die Chorherren, die Pfarrer, die Kapläne, vielleicht mit zwei, drei Adelsplätzen. Dieser liturgische Bereich liegt abgegrenzt hinter einem hohen Lettner, der diese Welt des Klerus einrahmt, zu der übrigens auch die Laienbrüder nicht gehört haben. Vor dem Lettner gibt es dann noch den Bereich des Gemeinde- oder Kreuzaltars, an dem der Priester einen Teil der Messe zelebrierte und das Taufbecken.

Aufriss der Südseite. Violett unterlegt die "Priesterkirche", nicht viel kleiner als die gelb unterlegte Gemeindekirche. Man erkennt, dass das ehemalige Portal (rot) mittig zu diesem Kirchenteil liegt. Die Länge des heutigen Kirchenschiffs ist durch die schwarze Linie unten gekennzeichnet. (Bild koloriert aus dem "Band 4" des Landesdenkmalamts Stuttgart 1977 der "Forschungen und Berichte...")

Dieser ganze Bereich stellt die weitgehend in sich geschlossene "Priesterkirche" dar. Die Grenze dieses herausgehobenen Kirchenteils wird in Sindelfingen übrigens am Außenbau gezeigt: durch die einsame Lisene am Obergaden - siehe Foto. Ein wirkliches Unikum. Der übrige Raum im Kirchenschiff umfasst die Gemeindekirche, ohne Bestuhlung, mit weiteren Altären, immer offen durch ein Portal im Süden. Und da fällt mir auf: Wenn ich diese Gemeindekirche nehme und diesen Teil des Gesamtschiffs halbiere, dann bin ich genau an dem Ort, wo der historische Eingang, eben der durch Leins zugemauerte, sich befunden hatte. Das war die eigentliche romanische Symmetrie, die theologisch begründete; der historisch begründete Eingang in die Kirche.

Ich weiß nicht, ob dem historistischen Baumeister Leins dies bewusst war. Aber eines ist mir klar: Ihm war das perfekte "Bild der Romanik" wichtiger als theologische oder kulturhistorische Aspekte. Möglicherweise hatte er zwar eine "höhere Idee" vom Monument Martinskirche, aber wir kennen auch den sehr selbstbewussten "freien Umgang mit der Baugeschichte" im Historismus. Und ich denke lächelnd an den guten Freund von Leins, den aus Sindelfingen stammenden Pfarrer Ottmar Schönhuth: Wenn er für seine "Chronik der Stadt Sindelfingen" zur Geschichte der Martinskirche eine Sage braucht, dann schreibt er eben selbst eine. Bei ihm taucht die "Glocke im Hinterlinger See" 1864 das erste Mal auf und wir nicken freundlich. "Se non è vero, è bon trovato", sagt der Italiener: "Wenn´s auch nicht wahr ist, aber es ist sehr gut erfunden". 



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